zur Erinnerung
Schicht auf Schicht

Von Ronny Schilder (Text und Fotos)

Erschienen am 27.04.2019

Die Lausitz war das Energiezentrum der DDR. Städte wie Hoyerswerda verhießen Fortschritt und ein besseres Leben. Heute geht es um Wegzug, Wölfe und das Leben nach der Kohle. Ein Besuch in der Region, die sich Zukunft hart erkämpfen muss.

Frank Arnold war erster Presser in der Brikettfabrik Knappenrode bis zu ihrer Schließung 1993. Nach der letzten Schicht half er beim Abriss einiger Anlagen mit und führt heute Besucher an seinen früheren Arbeitsplatz. "Ich muss eiskalt sein, sonst kocht bei mir alles hoch", sagt er. Foto: Ronny Schilder

Hoyerswerda.
In einem Interview für ein Buch, das DDR-Liedermacher porträtierte, sagte Gerhard Gundermann über Hoyerswerda und die Lausitzer Industrieorte: "Das ist ein ständig gleichlaufender Rhythmus. Wie ein Waffeleisen, das jeden Tag zuschlägt." Das Buch erschien 1988, das Waffeleisen war schon kaputt, aber wie schnell es dann wirklich den Dienst quittieren und im Land etwas Neues beginnen würde, das ahnte nicht mal Gundermann, der in seinen Liedern oft Prophet war.

In der Brikettfabrik Knappenrode, vor den Toren der Stadt, arbeitete Frank Arnold, damals Mitte 30, heute 60. "Erster Presser, Lohngruppe 7, Tätigkeitsgruppe 1, 1500 Mark Ost plus Zuschläge." Einer von 380 Arbeitern pro Schicht, 13 Pressen rund um die Uhr, 120 Briketts pro Minute. "In unseren Gärten gab es kein Viehzeug, das hätte nicht überlebt. In acht Stunden haben wir 100 Tonnen Staub produziert!" Wenn er heute eine akustische Installation im Fabrikmuseum abfährt, die Geräusche der Pressen, brechen frühere Kollegen manchmal in Tränen aus. "Ich muss eiskalt sein, sonst kocht auch bei mir alles hoch", sagt Arnold.

Die Lausitz, ein Stück Osten, vielleicht etwas ostiger als der Rest, wie das alte Wismutland. Alles hier hatte ein Extra - extra grandios, extra schlimm. Höhenflüge und tiefer Fall. In jedem zweiten Artikel, in jeder zweiten Rede wird das Sprichwort zitiert: "Gott schuf die Lausitz, der Teufel legte die Kohle drunter."

Fortschrittsversprechen, Altlast, Lebensraum: die Bautzener Straße in der Neustadt von Hoyerswerda.
Foto: Ronny Schilder

Kristin Zinke, Museumschefin in Knappenrode, ist eine tiefe Verbundenheit mit Land und Leuten von den Lippen abzulesen. Sie weiß, was Fremde hier im ersten Anlauf sehen: "Eine scheinbar ausgeräumte Landschaft." So einfach ist es aber nicht.

Die Lausitz, mal im Brennpunkt, mal im Abseits der Geschichte, hat sich öfters neu erfinden müssen, Schicht auf Schicht. Wer aus Dresden über Königsbrück durch die Laußniger Heide kommt, wo ein Denkmal an den "letzten", 1740 hier geschossenen Wolf erinnert, sieht wie an einer Schnur aufgefädelte Orte, die dem altsächsischen königlichen Infanterieregiment verbunden waren. Erzählt Kristin Zinke.

Der Flussübergang, die Furt von der Mark Meißen in die Oberlausitz ("Königs Brücke"), war nach den Napoleonischen Kriegen bedeutungslos geworden. "Einige Jahrzehnte später legte man ein Gleis hierher, errichtete einen Truppenübungsplatz. Der Verwalter und die Rittmeister mit ihren Familien zogen um an den neuen Standort der Garnison." Webereien für Waffenröcke und Glasfabriken für Lampenschirme schossen aus dem Boden. Auch in der NS-Zeit wurde der Standort genutzt, später von der Nationalen Volksarmee und den sowjetischen Streitkräften. Heute steht hier noch ein Institut der Bundeswehr. Der Übungsplatz selbst ist inzwischen Naturschutzgebiet.

Die Heide bei Dresden teilt das Land in ein Davor und ein Dahinter, sagt Kristin Zinke. Wer in die Lausitz will, der muss hindurch. Bald kommen die ersten Altbergbaugebiete, "Stangenholz"-Wälder, Aufforstungsflächen. Am Blauen See hatte die Volksschauspielerin Grete Weiser einen Bungalow, die dortige Pension soll noch über Erinnerungsstücke an sie verfügen.

In Bernsdorf steht ein verlassen wirkender Bahnhof: Früher ein Umschlagplatz für die Glasindustrie, die Pigmentherstellung (Zinkweiß) und später die Kohle - heute fünf Nummern zu groß und trotzdem nicht aufgegeben. Seit zwanzig Jahren habe hier kein Personenzug gehalten, sagt Kristin Zinke, aber der Bürgermeister gebe nicht klein bei. In Pulsnitz bestehe ein Pendelverkehr nach Dresden, das habe Zuzug gebracht. Die Hoffnung darauf ist auch in Bernsdorf zuhause. Die alten Wege in die Landeshauptstadt, nach Kamenz, Hoyerswerda - seit der Wende zerfleddert, die gewalzten Stähle als Schrott verkauft. Ohne Gleise kein Zug. Nun hoffen sie auf Schienen vom Kohleausstiegsgeld

Zu den großen Investoren in Bernsdorf gehörte Hugo Stinnes, Industriemagnat der Kaiserzeit, der auch bei Hofe seine Fäden zog: das walte Hugo! "Die Ortschaft, früher ein sorbisches Dorf, wurde mit der Industrialisierung völlig überprägt, Zuzug ohne Ende", sagt Kristin Zinke. Die Herkunft der Ankömmlinge: völlig egal. Gewerkschafter, SPD-Mitglieder (nach Bismarcks Sozialistengesetz), religiös Verfolgte, irgendwo auf Schwarzen Listen - hier waren sie willkommen. Die Leute trennte ihr Status in der Hierarchie, nicht der Geburtsort: hier der Ingenieur, da der Hilfsarbeiter. In Böhmen wurden Fachleute für die Glaswerke angeworben. Viele Tschechen arbeiteten in Schwepnitz noch bis in die 1990er-Jahre hinein. Bis zum Aus der Glasherstellung.

In Zeißholz erlosch die sorbische Sprache durch massiven Zuzug von Arbeitern für die Brikettfabrik. Oßling wurde nach dem Krieg zur Heimat für 400 Schlesier, das brach der sorbischen Sprache dort im Alltag das Genick. Auch abseits des verbliebenen Sprach- und Siedlungsgebietes wird gern auf die sorbische Vergangenheit Bezug genommen: "Witajce k nam!" (Willkommen bei uns) steht am Türstock des Zeißholzer Dorfmuseums.

"Es fehlen heute zwei Generationen in der Lausitz, die nach der Wende weggegangen sind. Das zieht sich durch jede Familie, selbst in den sorbisch-katholischen Regionen", erklärt Robert Lorenz, Ethnologe, Autor und Kurator, der unter anderem am Sorbischen Institut in Bautzen tätig ist. "Es fehlen die Jüngeren. Dafür gibt es sorbische Communities in Dresden und Berlin."

Das Thema Wegzug, sagt Lorenz, werde gern in Hoyerswerda "abgeladen": Die Stadt war einst die kinderreichste in der DDR, ist dann aber von 68.000 Einwohnern (1989) auf 33.000 (2017) geschrumpft. Historisch erlebte sie nur eine kurze Zeit der Blüte. Im Mittelalter hielt der Sechs-Städte-Bund mit Bautzen, Kamenz, Görlitz das Landstädtchen rigoros klein: " Die schickten ein Söldnerheer, als Hoyerswerda eine Stadtmauer bauen wollte - Belagerung, erledigt", so Lorenz. Als kleine, preußische Provinzstadt wurde Hoyerswerda ab den 1880er-Jahren zaghaft industrialisiert. Zwischen den Kriegen wuchsen Kohleunternehmen und Aktiengesellschaften heran.

Die DDR machte den Cottbuser Raum zum "Energiebezirk", nach sowjetischem Modell: Die Gliederung der Bezirke folgte der werksstrukturellen Sicht. Alles wurde auf die Kohle und die großen Kombinate ausgerichtet. Für Hoyerswerda eine Zeitenwende, ein Sprung nach vorn.

Schon 1920 hatte ein Kanalneubau die Stadt im Flussgebiet der Schwarzen Elster von alten Gräben und Wasseradern befreit. Nun begann der Aufbau der sozialistischen Musterstadt: An der Bautzener Allee entstanden die ersten Hochhäuser der DDR in Plattenbauweise. "Man plante eine sorbische Universität, Sprachschulen, Kulturangebote", so Robert Lorenz. "Fehlte nur noch der sorbische Weltraumbahnhof!"

Die Realität hielt mit den Träumen nicht Schritt. Ab 1966 wurde statt der Wohnstadt eine Schlafstadt gebaut. Rundherum fraßen Tagebaue die Dörfer auf, hinterließen apokalyptische Wüsteneien. In den Wäldern übte das Militär. "Wir haben das Land umgekrempelt. Wir haben uns selbst umgekrempelt", schrieb Brigitte Reimann 1961 in "Ankunft im Alltag". Sieben Jahre später, desillusioniert, zog sie fort nach Neubrandenburg.

Die meisten Zuzügler, denkt Kristin Zinke, sind im Tagebaugebiet nie wirklich heimisch geworden. "Zuzug heißt ja auch Heimatverlust: Man wohnte und lebte hier in der Platte, arbeitete immerzu, und wenn man frei hatte, fuhr man ,nach Hause' - dahin wo die Eltern wohnten. Das habe ich so oft gehört. Die emotionale Verbindung war nicht dieselbe, als wenn man hier Großeltern gehabt hätte und einen Baum gepflanzt hätte, der jetzt herangewachsen ist. Selbst Gundermann kam ja aus Weimar. Der baggerte hier nicht seine eigene Heimaterde weg."

Nach der politischen Wende, so erzählt es Frau Zinke, gab es kurzzeitig Westtarif für die Kohlekumpel, dann war für die meisten Schluss. "Mit Arbeitslosengeld I ließ sich auskömmlich leben. Auf Alg II bekam man immer noch Kredit fürs eigene Haus, damals zu 6,9 Prozent Zinsen, also bauten viele. Und dann kam Hartz IV, plötzlich Schulden, die Kinder weg. Das sind so Gründe, warum Leute dann verbittert sind."

Im September 1991 schockierte ein Pogrom gegen ausländische Vertragsarbeiter in Hoyerswerda die gerade wiedervereinigte Republik. Der Autor Volker Braun schrieb in "Die Leute von HoyWoy" über die Unkultur der Verlierer in der "einst berühmten" Stadt: "Nun zeigen sie ihre Kraft den Schwächeren." Danach sei gehandelt worden, Aufarbeitung ohne Tabus, schätzt Robert Lorenz ein: "In Hoyerswerda gibt es heute eine kluge und problembewusste Bürgergesellschaft, wie sich 2015 auch zeigte." Das sei nicht überall in der Lausitz der Fall. Im Museum im Hoyerswerdaer Schloss ist dem Pogrom eine Abteilung gewidmet.

"Die Menschen hier leben auf unsicherem Boden. Daher kommt auch ihr Skeptizismus", glaubt Robert Lorenz. Der Senftenberger See, stolzes Pilotprojekt der Rekultivierung aus den 1970er-Jahren, musste zuletzt für mehrere Monate gesperrt werden, weil eine Insel ins Rutschen gekommen war - 40 Jahre danach! Eine gebeutelte Gegend, "die sich schön anmalt, aber schwertut mit Zuzug", wie Lorenz sagt. Er spricht vom "Landschaftsumbau der Gefühle". In den neuen Seen sehe er auch eine Heilsgeschichte. Ein Pflaster auf verwundete Seelen.

"Ich habe keinen Groll", sagt Frank Arnold, der frühere Presser und heutige Fremdenführer im Brikettwerk Knappenrode. Die stillgelegte Fabrik gehört inzwischen zum Sächsischen Industriemuseum, das in Chemnitz residiert, und wird im nächsten Jahr nach aufwändiger Umgestaltung neu eröffnet werden. "Für Museumszwecke ist Knappenrode ein Glücksgriff", sagt Kristin Zinke, die Leiterin: "Wir haben alles da. Das Werk und die Bergarbeitersiedlung, die Althalden und die Rekultivierung, den alten Tagebau und Restloch DF - den Graureihersee."

In der Waschkaue am Eingang zum Betriebsgelände, wo die Arbeiter einst ihre Wäsche wechselten, hängen heute noch die Klamotten der letzten Schicht von der Decke, so wie sie damals hier zurückgelassen wurden. Keiner hat sie angerührt. Eine Alltagsinstallation, eine zu hinterfragende "Geste des Eigensinns", wie es der Kulturwissenschaftler Paul Kaiser nennt, der hier als Kurator wirkt. Geschichte von unten. Zeichen eines Vorgangs, so Kaiser, der noch nicht abgeschlossen ist.


Quelle: FP vom 27.04.2019


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 22.01.2023 - 11:08